Mittwoch, 5. Januar 2011

Lieber ...
es fängt bei der Anrede an. Wie soll ich dich nennen? Du spielst das Spiel mit den Pseudonymen. Du hast gesagt, dass du es spielen müsstest. Aus Angst. Allerdings zeigst du dich in den letzten Monaten zunehmend unverhüllter. Du wirst auch wieder in dein Land fahren. Direkt. Du hast Projekte dort, die, wie ich vermute, dir einen Namen machen werden. Du schreibst und publizierst Bücher. Unter einem anderen Namen. Du arbeitest an einem anderen Blog. Ich weiß nicht, unter welchem Namen. Es fängt bei der Anrede an. Wie soll ich dich nennen?
Wie sollst du mich nennen? Vor Jahren hatte ich versucht, mir einen anderen Namen zu geben. Aber niemand wollte mich so nennen. Strikte Weigerung aller. Als ich ein Jahr in Frankreich verbrachte, versuchte ich meinen Namen zu französisieren. Aus Klaus sollte Claude werden, da die Franzosen meinen Namen nicht aussprechen konnten. Sie sagten "Klos". Wer will schon wie ein Essen heißen? Aber alle sagten, du heißt nicht Claude, du bist Klaus, sprich "Klos". Nur eine sagte "Klaus". Mit ihr hatte ich dann eine Liebesbeziehung. Aber sie kam auch aus Algerien. In Afrika, in Simbabwe bei den Ndebele, erzeugte mein Name ein gewisses Gelächter. Wir fuhren Zug. Von Harare nach Bulawayo. Vom Shona-Land ins Ndebele-Land. Man unterschied damals zwischen Trinker Compartments und Non-Trinker Compartments. Um zu reservieren, trug man seinen Namen in eine Liste ein, die am Bahnsteig ausgehängt wurde. Ich war mit einem Studienfreund unterwegs. Wir waren junge Studenten der Ethnologie, die vorgaben, Feldforschung zu machen, sich aber im Grunde amüsieren wollten, und sich bereits darauf freuten, daheim von den großen Abenteuern in der Fremde erzählen zu können. We did it. Das wollten wir sagen. Dieser Studentenfreund hieß mit Familienname "Beer". Meinen Namen, Buchheit, kennst du. Da wir beim letzten Mal das Trinker-Compartment gewählt hatten und es sich schlechterdings als Säuferabteil entpuppt hatte, in dem die Leute sturzbesoffen sind und keine Minute ungenutzt lassen, dir irgendetwas ins Ohr zu brüllen, hatten wir uns diesmal für das Nichttrinkerabteil entschieden. Der Schaffner kam und las wie üblich die Namen vor. Er las " Mister Beer" in der englischen Aussprache. Er las meinen Namen und die Aussprache war völlig korrekt. Er lachte und ich war verwundert. Niemand außerhalb Deutschlands hatte bisher meinen Namen korrekt aussprechen können. Er lachte immer mehr. Mister Beer & Mister Buchheit. Im Non-Trinker-Compartment. Ich fragte ihn, was daran so lustig sei. Er antwortete, dass es in seiner Sprache, in Ndebele, das Wort "buchheit" gebe und dass es "totally drunk" bedeute. Und er lachte und lachte und verschwand. Eine Stunde später, der Studienkollege und ich hatten inzwischen unser erstes Bier geöffnet - Non-Trinker-Compartment hieß nämlich nicht, dass man nicht trank, sondern dass man "gemäßigt" trank, so vier oder fünf Bier -, kam der Schaffner wieder vorbei. In Zivil. Er sah das Bier, lachte, sagte meinen Namen, setzte sich zu uns, ich bot ihm ein Bier an, er nahm es. Ich las ihm das geniale simbabwische Gedicht "slow slow goes the fuckin' train" vor. Mein Kommilitone stieß mir den Ellbogen in die Seite, was mir einfiele, ich könne doch nicht dem Schaffner dieses Gedicht vorlesen. Doch konnte ich. Und dem Schaffner gefiel das Gedicht. Und er sprach meinen Namen korrekt aus. Ich hörte ihn gern mich ansprechen.
Immer wieder habe ich versucht, mir einen Namen zu machen. Als Wissenschaftler. Als Schriftsteller. Als Theaterschaffender. Als Lehrer. Als Mensch. Nie hat es so wirklich geplappt. Ok, ich habe eine Google-Existenz, aber was ist das schon. Ich trage schwer an diesem Namen. Ich würde ihn gerne loswerden. Und doch halte ich krampfhaft an ihm fest und - wie mir inzwischen scheint - war mir die Schaffung einer Google-Existenz wohl das wichtigste.
Ich war nie wieder in Afrika. Ich bin selten mehr in andere Länder gereist. Ich bin in den letzten 13 Jahren in Süddeutschland umher gezogen. Freiburg, Karlsruhe, München, Augsburg. Immer weniger stolz wurde ich auf meinen Namen, weil ich zunehmend herausfand, welche Geheimnisse mit diesem Namen verbunden sind. Je mehr ich versuchte, diesem Namen zu entkommen, ihn gewissermaßen neu zu erschaffen, holte er mich mit der Gewalt griechischer Tragödien ein. Also begann ich ihm eine Nase zu zeigen und - Tragödien zu schreiben und auf die Bühne zu bringen. Ein kleines Theaterstück wurde aufgeführt. An einem anderen, das das wahre Ausmaß der Tragödie hätte aufzeigen sollen, probten wir. Zwei Jahre lang. Bis wir es aufgaben. Ich konnte langsam meinen Namen nicht mehr hören. Ich hatte die Nase voll. Ras-le-bol & j'en ai marre. Meinen Namen. Mich. Ich verschwand unter der Last des mir gegebenen Namens. Des Familiennamens. Die Familie holte mich ein und ich weigerte mich, mich einholen zu lassen. Denn immer noch nicht hatte ich einen eigenen Namen. Immer noch nicht hatte ich mir einen Namen gemacht. Nun war meine Mutter gestorben. Diesen Sommer. Und ich hatte immer noch keinen Namen. Ich war damals im Zug in Simbabwe mir wesentlich näher gewesen. Damals hatte ich einen Namen.
Ich sitze hier in einem Café. Die Bedienung ist sexy und lächelt, wenn sie mir ein Getränk hinstellt. Die Musik ist angenehm. Die anderen Gäste nicht aufdringlich. Das Sofa, auf dem ich sitze, und der Tisch, an dem ich schreibe, sind im Fünfzigerjahrestil gehalten. Ähnliche standen im Wohnzimmer meiner Eltern rum. Nur dass meine Eltern nie lächelten. Dass sie keine angenehme Musik hörten. Dass es keine anderen Gäste gab. Nie.
Es fängt bei der Anrede an. Die Anrede steht im Mittelpunkt der Bezugssysteme. Wir beide könnten auch hier sitzen. Wir haben es bereits getan. Bier trinken und miteinander sprechen. Warum also der Blog? Warum also die plötzliche Schwierigkeit der Anrede. Warum plötzlich nicht eine Sprache sondern zwei? Ich habe diesen Blog entschleunigte Bezugsysteme genannt. Des Référentiels décélérés. Man unterstellt den neuen Medien eine Beschleunigung bis hin, wie es Paul Virilio nannte, zum rasenden Stillstand. Ich denke allerdings, dass, wenn man sie dazu benutzt, Kunst zu machen, eine Entschleunigung eintritt. Plötzlich dreht sich die Erde ein wenig langsamer um die Sonne. Die Geschwindigkeit des Elektrons wird unscharf. Die Dentriden am synaptischen Spalt flattern hilflos und in Zeitlupe, da ein plötzliches Innehalten nicht mehr verstehen sondern nachdenken lässt. Wie "Nachsitzen" in der Schule. Es fängt bei der Anrede an. Das erste Innehalten. Die erste Entschleunigung. Das erste Nachdenken über die eigenen Namen. Über die Familie. Die Herkünfte. Die Wohnorte. Die Aktivitäten. Die Berufe. Die Kontakte. Die Kunst. Die Ziele. Die Bücher. Die Liebe. Die Cafés. Die Sofas. Die Tische. Die Standpunkte. Die Bedienungen. Die Sitzfläche. Ihre Bezüge. Samt oder Imitat?
Nenn mich bei meinem Namen.

Klaus Peter Buchheit